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Stärkenorientierung im Coaching

CoachHub · 22 December 2021 · 5 min read

Die meisten Coaches werden der Aussage zustimmen, dass die Ressourcenorientierung eine der wichtigsten Säulen von professionellem Coaching ist. Mit einer Ressource wird in einem breiten Sinne alles verstanden, was Klienten auf dem Weg der Zielerreichung nützlich sein kann, wobei zwischen externen Ressourcen und internen Ressourcen unterschieden wird. Zu den internen Ressourcen gehören die spezifischen Stärken einer Person. In der Positiven Psychologie wurde ein System menschlicher Stärken erarbeitet, das unter dem Begriff VIA-Stärken bekannt ist, wobei VIA für „Values in Action“ steht.

Entstehung der VIA-Stärken

Vereinfacht ausgedrückt recherchierte ein Team von Forschern über mehrere Jahre in der „Weisheitsliteratur“ dieser Welt, darunter: religiöse Texte, philosophische Literatur, Biografien von politischen und künstlerischen Koryphäen, aber auch kontemporäre Texte, beispielsweise Klassiker der Psychologie und der Management-Literatur. Konkret gingen sie auf die Suche nach Passagen, in denen Menschen auf die eine oder andere Weise als charakterlich vortrefflich, mustergültig oder sonst irgendwie wünschenswert beschrieben werden.

Um in die engere Auswahl zu kommen, mussten die Stärken-Kandidaten ein zentrales Kriterium erfüllen: Sie sollten über verschiedene Kulturkreise und Zeitalter hinweg immer wieder erwähnt werden, also eine Art von positiver Universalität menschlicher Erfahrung darstellen. Um den reichen Schatz an Möglichkeiten einzugrenzen, wurde zudem eine Liste weiterer Kriterien erarbeitet, darunter: Die Ausübung der Stärke soll als erfüllend erlebt werden und bei der Person selbst wie auch bei anderen potenziell das Wohlbefinden mehren. Zudem sollte die Dimension als moralisch wertvoll betrachtet werden, sprich: Sie ist nicht ausschließlich Mittel zum Zweck, sondern wird um ihrer selbst willen geschätzt.

Kurzbeschreibung der 24 Stärken

Im Folgenden finden Sie eine Übersicht über die Stärken. Die deutschen Beschreibungen beruhen in leichter Abwandlung auf der Arbeit eines Teams um den Schweizer Psychologen Willibald Ruch.

Weisheit und Wissen (Erwerb und Gebrauch von Wissen)

  1. Kreativität: neue oder effektivere Wege finden, Dinge zu tun;
  2. Neugier: Interesse an der Umwelt und anderen Menschen;
  3. Urteilsvermögen: Dinge durchdenken; von verschiedenen Seiten betrachten;
  4. Liebe zum Lernen: neues Wissen erlangen und organisieren;
  5. Weitsicht: in der Lage sein, anderen Menschen guten Rat zu geben.

Mut (interne und externe Barrieren überwinden)

  1. Tapferkeit: sich Bedrohungen oder Schmerz nicht leichtfertig beugen;
  2. Ausdauer: beenden, was man begonnen hat;
  3. Ehrlichkeit: die Wahrheit sagen, sich authentisch verhalten;
  4. Tatendrang: der Welt mit Begeisterung und Energiereichtum begegnen.

Menschlichkeit (menschliche Interaktionen ermöglichen und gestalten)

  1. Liebe geben und nehmen können: menschliche Nähe herstellen und schätzen;
  2. Großzügigkeit: anderen gerne Gefallen tun, gute Taten vollbringen;
  3. Soziale Intelligenz: sich der eigenen Motive und Gefühle wie auch jenen von anderen Menschen bewusst sein.

Gerechtigkeit (das Gemeinwesen fördern)

  1. Teamwork: gut als Mitglied eines Teams arbeiten;
  2. Fairness: Menschen gleich oder gerecht behandeln;
  3. Führungsvermögen: Leistung von Gruppen ermöglichen und organisieren.

Mäßigung (dem Exzess entgegenwirken)

  1. Vergebung: Menschen vergeben können, die (einem) Unrecht getan haben;
  2. Bescheidenheit: das Erreichte für sich sprechen lassen;
  3. Umsicht: nichts tun, was später bereut werden könnte;
  4. Selbstregulation: aufmerksam steuern, was man fühlt und handelt.

Transzendenz (Sinn stiften, das große Ganze erfahren und erfahrbar machen)

  1. Sinn für Exzellenz und das Schöne: Schönheit in ihren verschiedenen Ausdrucksformen schätzen;
  2. Dankbarkeit: sich der guten Dinge im Leben bewusstwerden und sie zu schätzen wissen;
  3. Hoffnung: bewusst das Gute erwarten und daran arbeiten, es zu erreichen;
  4. Humor: Humor schätzen und fördern; Menschen gerne zum Lachen bringen;
  5. Religiosität/Spiritualität: kohärente Überzeugungen von einem höheren Sinn des Lebens entwickeln; die Verbindung mit „etwas Größerem“ kultivieren.

Natur der VIA-Stärken

Laut Biswas-Diener (2010) lassen sich Stärken charakterisieren als überdauernde Muster von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen. Der Einsatz solcher Stärken wird als energetisierend empfunden. Zudem fördern sie ein Gefühl von Authentizität. Das heißt, Menschen haben das Gefühl, „ganz sie selbst zu sein“, wenn sie ihre wichtigsten Stärken zum Einsatz bringen. Sie stehen im Zusammenhang mit Höchstleistung und optimalem psychologischen Funktionieren.

Grundsätzlich folgt die unterliegende Mechanik einer Logik, die sich auf Aristoteles zurückführen lässt. Demnach liegt eine Stärke auf dem Mittelpunkt eines Kontinuums, dessen Pole durch zwei „Laster“ charakterisiert sind. Beispielsweise lässt sich Mut als Mittelpunkt zwischen zwei Polen klassifizieren, die man mit Feigheit und Übermut überschreiben könnte. Ferner ist zu beachten, dass das Stärkenprofil ausschließlich in Relation zu den Fähigkeiten eines Menschen in einem konkreten Kontext interpretierbar ist.

Ein persönliches Beispiel

Meine am stärksten ausgeprägten Stärken lauten: Neugier, Lernliebe, Tatendrang. Es gibt viele Gründe, warum ich mit Anfang 40 einen gut dotierten und über die meiste Zeit anregenden und zufriedenstellenden Management-Job an den Nagel gehängt habe, um Professor an einer Business School zu werden, doch vor dem Hintergrund der erwähnten Stärken wird dieser Schritt besser verständlich. Generell beschreiben diese hervorragend, wie ich verschiedenste Themen im Leben angehe: Wenn ich mich einer Aufgabe stellen muss und noch nicht weiß, wie ich vorgehen werde, kaufe ich mir mit großer Wahrscheinlichkeit zunächst Bücher zu dem Thema oder suche nach wissenschaftlicher Literatur, arbeite diese Quellen durch – und komme darüber ins Handeln.

Testverfahren: VIA-IS

Nach der Veröffentlichung des Kompendiums konzipierte man ein Testverfahren, das bereits über 15 Millionen Mal absolviert wurde. Der VIA-IS besteht aus 240 Items. Es verfügt über adäquate Gütekriterien, man benötigt aufgrund seiner Länge jedoch knapp 20 Minuten für das Ausfüllen. Vor diesem Hintergrund wurde eine Version entwickelt, die lediglich 120 Items aufweist, ohne dass die die Qualität des Assessments wesentlich gelitten hätte. Das Testverfahren findet sich – in mehr als 40 Sprachen – auf der Seite www.viacharacter.org. Angeboten wird es vom gemeinnützigen „VIA Institute on Character“ mit Sitz in Cincinnati. Die Durchführung des Tests wie auch ein einfacher Ergebnisreport, eine Auflistung der eigenen Stärken in absteigender Intensität, werden zum Nulltarif zur Verfügung gestellt.

Signaturstärken im Coaching

Signaturstärken tragen ihren Namen, weil sie uns in unserer Einzigartigkeit auszeichnen, ähnlich wie unsere Unterschrift. Die meisten Menschen verfügen über drei bis sechs davon. In aller Regel handelt sich um die am intensivsten ausgeprägten Stärken im Profil. Wenn Menschen ihre Signaturstärken einsetzen, dann haben sie dieses Gefühl von „Das bin einfach ich!“, es energetisiert und fasziniert sie. Häufig zeigt sich eine Wahrnehmung von Unvermeidlichkeit: „Ich kann einfach nicht anders, als die Dinge genau so zu machen“.

Das Wissen um die eigenen Stärken ist allerdings weniger als die halbe Miete. Der Schlüssel zum Erfolg liegt im kontinuierlichen Einsatz der Stärken. Es geht darum, diesen mehr Raum im (Arbeits-)Leben einzuräumen, sie häufiger und ausgiebig einzusetzen. In der Forschung wird dieses Vorgehen als „Strength Use“ bezeichnet. Das Ziel von stärkenbasiertem Coaching ist es folglich, die Stärkennutzung auf vielfältige Art und Weise anzuregen. Dies geht nicht nur mit mehr Zufriedenheit einher (Govindji & Linley, 2007), sondern unterstützt Klienten übergreifend beim Erreichen von selbstgewählten Zielen (Linley et al., 2010).

Über den Autor:

Prof. Dr. Nico Rose ist ein führender Experte für Positive Psychologie und seit 2019 Professor für Wirtschaftspsychologie an der International School of Management. Zuvor war er Vice President im Stab des HR-Vorstands von Bertelsmann. Er beschäftigt sich im Schwerpunkt mit sinnorientierter Führung und der Gestaltung von Unternehmenskulturen. Rose hat bislang fünf Sachbücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig Beiträge für Medien wie die WirtschaftsWoche und den Harvard Business Manager. Sein neuestes Werk trägt den Titel „Management-Coaching und Positive Psychologie: Stärken stärken, sinnvoll wachsen“ und erschien im Dezember 2021.

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